Feststellung einer Minimalasbestose im Lungenkrebsfall, Berufskrankheit Nr. 4104

Das Bundessozialgericht hat in einer Rechtssache – B 2 U 177/10 B – unter dem 13.09.2010 die Grundsätzlichkeit der Rechtsfragen nicht erkennen können, die ausdrücklich gestellt waren:

„Ob nicht 20 bis 30 Asbestkörper pro Kubikzentimeter Lungengewebe ausreichend sind für die Annahme einer sogenannten Minimalasbestose“

und

„ob die beim Deutschen Mesotheliomregister praktizierte Forderung von 1.000 Asbestkörpern pro Kubikzentimeter zum Nachweis einer Minimalasbestose zutreffend ist oder nicht“.

Es fragt sich, ob das Bundessozialgericht die Grundsätzlichkeit dieser Rechtsfragen übersehen durfte, obwohl im Oktober 2010 in Falkenstein die Berufsgenossenschaftliche Tagung anstand, zum Thema der Falkensteiner Empfehlungen für Asbestbegutachtungsfälle, wo gerade diese Fragen eminente Bedeutung aufwiesen.

Statt dessen verweist das Bundessozialgericht auf eine Entscheidung des Senats vom 06.04.1989 –  2 RU 55/88 -, wo folgendes zu lesen ist:

„Dabei ist es unter Berufung auf die von Prof. Dr. U./Prof. Dr. M. als gültig bezeichnete, herrschende medizinische Lehrmeinung davon ausgegangen, daß die Diagnose einer Minimalasbestose an den histologischen Nachweis von eiweißumhüllten Asbestkörperchen im Lungengewebe gebunden sei.“

Ergebnis der Falkensteiner Empfehlungen bzw. der Tagung in Falkenstein ist einerseits, daß keine Asbestkörperchen zu fordern sein dürften in Deutschland, weil in Deutschland vornehmlich Weißasbest verarbeitet wurde mit der Folge des sogenann-ten Fahrerfluchtphänomens, in dem Sinne, daß der Weißasbest später nicht mehr im Körper auffindbar ist.

Wenn das Bundessozialgericht ernstlich den Nachweis von Asbestkörperchen fordert, obwohl mehr als 90 % des in Deutschland verarbeiteten Asbestes Weißasbest war, dann wirft das höchste Gericht gewissermaßen die Forschungsergebnisse des führenden Arbeitsmediziners Prof. Dr. Woitowitz, c/o Justus-Liebig-Universität in Gießen, über Bord.

Ergebnis der Falkensteiner Tagung im Oktober 2010 war zunächst deutlich, daß eine Forderung von 1.000 Asbestkörpern pro Kubikzentimeter zum Nachweis einer Minimalasbestose nicht gestellt werden darf.

Darüber waren sich offenbar alle Teilnehmer einig, daß dieses Abschneidekriterium der Vergangenheit nicht weiter Platz greifen dürfe.

Ob Asbestkörperchen gefordert werden können bzw. deren Nachweis oder nicht, diese Frage wurde im Oktober 2010 in Falkenstein divergierend beantwortet und nicht geklärt.

Die berufsgenossenschaftliche Pathologin, Prof. Tannapfel, vom Mesotheliomregister, welches ein Gutachtenmonopol unterhält gewissermaßen in den Asbestfällen, würde lieber den Begriff Asbestose ersten Grades statt einer Minimalasbestose angewandt sehen, was allerdings offenbar zu einer Verstärkung der Anforderung führen dürfte, statt eine Minimalasbestose zu belassen, und zwar in dem Sinne, daß es sich wirklich nur um eine Minimalasbestose handeln muß.

Dabei wurde in Falkenstein nicht erkannt, daß einmal die Einwirkungskausalität der Einwirkung von Asbest und andererseits die Feststellung einer Lungenfibrose oder Pleurafibrose genügt, um dann anhand einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit den Zusammenhang zu prüfen.

Statt dessen wird in den Lungen histologisch und von den Pathologen weiter danach geforscht, ob Asbestspuren in der Fibrose feststellbar sind, als ob es das Fahrerfluchtphänomen des Weißasbests gar nicht gäbe, der zu mehr als 90 % in der Bundesrepu-blik Deutschland verarbeitet wurde.

Allen Ernstes wird die idiopathische Lungenfibrose, d.h. eine Fibrose unbekannter Ur-sache, zum eigenen Krankheitsbild erklärt, als ob es sich nicht dabei nur darum han-delte, daß man nicht weiß, wie man diese Fibrose zuordnen soll.

War der Versicherte als Elektriker oder Dachdecker oder Isolierer jahrzehntelang as-bestexponiert, fällt die Zuordnung der Lungenfibrose bzw. Pleurafibrose zur Asbestbelastung deshalb nicht schwer, weil hier bereits wesentliche Mitursächlichkeit des Zu-sammenhangs genügt.

Dabei genügt dann die Plausibilität und die hinreichende Wahrscheinlichkeit, statt der Forderung von etwa Prof. Tannapfel, eine Lungenfibrose asbestbedingter Art müßte im Strengbeweis nachgewiesen sein.

Die beiden Eckpfeiler des Kausalzusammenhangs, Asbesteinwirkung und Fibrose verknüpfen sich in der Frage nach der hinreichenden Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs und nicht mehr.

Die überzogenen Forderungen der Pathologen an den Nachweis einer Asbestose im Fall von Nr. 4104, Kehlkopfkrebs oder Lungenkrebs in Verbindung mit einer Asbestbelastung, kann mit folgendem Beispiel vielleicht ad absurdum geführt werden, daß man nun dann auch bei der Lärmschwerhörigkeit nach Jahrzehnten einer Lärmbelastung gutachterlich nach dem Lärm im Ohr bei der Untersuchung forscht.

Das müssen sich die Rechtsuchenden im Fall einer Asbestlungenkrebsfalls oder Asbestkehlkopfkrebsfalls nun weiter bieten lassen, weil das Überziehen der Anforderungen an den Nachweis einer Minimalasbestose stark zunimmt in der Praxis.

Nunmehr will die Pathologin Prof. Tannapfel vom Berufsgenossenschaftlichen Mesotheliomregister die Validität der Forderungsergebnisse von Prof. Woitowitz, c/o Justus-Liebig-Universität Gießen, prüfen, als ob die Forschungsergebnisse von Prof. Woitowitz nicht längst Standard sind in der Medizin unter den Asbestexperten.

Das Bundessozialgericht hätte gut daran getan, einen Monat weiter zu sehen, um die Grundsätzlichkeit der gestellten Fragen zu erkennen, deren Grundsätzlichkeit angeblich nicht dargetan wäre bzw. nicht erkennbar wäre.

Das Falkensteiner Ergebnis in den Falkensteiner Empfehlungen ist dahin zu korrigieren, daß an keiner Stelle der Nachweis von Asbestkörpern bei einer Minimalasbestose gefordert werden darf.

Eine Anmerkung am Rande sei erlaubt.

Der Richter, der auf der Falkensteiner Tagung referierte zu der Neutralität der Feststellungen, welche die DGUV, ein privatrechtlicher Verein, federführend bearbeitet, übersah deutlich, daß gegenüber dem Hauptverband der Gewerblichen Berufsgenossenschaft bzw. gegenüber dem Spitzenverband der Gesetzlichen Unfallversicherung DGUV Ablehnungsanträge schon deshalb nicht denkbar sind, weil es sich um einen privatrechtlichen Verein handelt, und nicht um eine Behörde im Sinne des  Sozialgesetzbuch X.

Allerdings wurde auch die Fragwürdigkeit eines berufsgenossenschaftlichen Gutachtenmonopols angesprochen auf der Tagung, von einem Teilnehmer, die nicht zu übersehen ist, auch nicht von der Sozialgerichtsbarkeit.

Daran entscheiden sich die Fälle, die im Einzelfall etwa mit 350.000 Euro kapitalisiert zu veranschlagen sind, was die Schadenssumme anbetrifft, etwa in Form der berufsgenossenschaftlichen Leistungen, wenn anerkannt wird.

Feststellbar ist gegenwärtig, daß die Pathologen an Einfluß zunehmen, während die Forschungsergebnisse der Arbeitsmedizin gegenüber den Berufsgenossenschaften immer weniger ernst genommen zu werden scheinen.

Es hätte der Tagung gut angestanden, wenn Prof. Woitowitz, der führende Arbeitsmediziner, diese geleitet hätte, statt, daß die Forschungsergebnisse in das Publikum verbannt wurden, wo dieser Sachverständige zugegen war.

Fazit: Selbst die grundsätzlichsten Fragen interessieren die Sozialgerichtsbarkeit wenig.

Symptomatisch dafür ist ein Fall, den der Verfasser inzwischen dreimal vorgestellt hat, auf dem Arbeitsschutzkongreß in Düsseldorf, auf der vorletzten Falkensteiner Tagung und auf der diesjährigen Falkensteiner Tagung, nämlich der Fall, daß ein Chemiewerker Asbest in den Kneter einfüllte, ungeschützt aus Säcken, wofür die Berufsgenossenschaft 10 Fasern pro Kubikzentimeter ansetzt, statt 500 Fasern pro Kubikzentimeter.

Dies ging dann verfahrensmäßig so, daß durch einen Querverweis der Kunststoffwerker, der Asbest einfüllt, an die Stelle verwiesen wird, wo ein Arbeitnehmer mit leeren Asbestsäcken hantiert.

Dieser Fall beschäftigte das Sozialgericht Gießen und zeigte die Tendenz, berufsgenossenschaftliche Erkenntnisse, mögen diese noch so falsch sein, mit den Mitteln des Gerichts durchzusetzen, also im konkreten Fall unbegründet Verschuldenskosten der Hinterbliebenenseite aufzuerlegen, weil diese es wagte, es auf ein Urteil des Sozialgerichts Gießen ankommen zu lassen.

Die falsche Zählung, die extrem falsch ist im gebildeten Beispiel, zeugt von der Rich-tigkeit der Forderung von Prof. Woitowitz, c/o Justus-Liebig-Universität Gießen, die Einholung von unabhängigen arbeitstechnischen Sachverständigengutachten im Berufskrebsfall für unverzichtbar zu erklären, wovon wir in der Gegenwart weit entfernt sind, weil die Gerichte das Parteivorbringen der beklagten Berufsgenossenschaften als Gutachten ihren Entscheidungen zugrunde legen und mit der Androhung von Verschuldenskosten gegenüber den Rechtsuchenden diese von einer Kritik daran und einer Fortsetzung des Verfahrens abhalten.

Daß es die Crux der arbeitsmedizinischen und lungenfachärztlichen Gutachten im Asbestkrebsfall ist, wenn die berufsgenossenschaftlichen Expertisen von deren eigenen Beamten zugrunde gelegt werden, wurde immerhin auf der Falkensteiner Tagung deutlich, ohne, daß dieses Problem etwa gelöst worden wäre.

Fast alle Fragen harren in diesem Zusammenhang der Lösung.

Rechtsanwalt
Fachanwalt für Sozialrecht

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